Erstes Kapitel: Wer hat Angst vorm Drachen? Niemand!

Vorlesegeschichte für KinderEin Drache. Er nähert sich. Er ist grün und blau und mit dunklen Punkten. Nein, das sind keine Punkte, das sind Flecken. Große weihnachtsbaumgrüne Flecken. Miro, Lotte, Sven, Fabian und Laslo, die Kinder aus dem Lagerhaus, ducken sich hinter eine zerbrochene Fensterscheibe und schielen auf den Parkplatz. Sie sind auf zerbeulte Reifen geklettert, um besser sehen zu können. Draußen schüttet es.

In dem verlassenen Lagerhaus gibt es sonst nur noch ein paar Tische, Stuhlbeine und Eimer, in denen einmal Farbe gewesen sein muss. Und die Reifen. Wenn es regnet bauen sie gerne Reifenburgen. Mitten beim Reifen Schleppen hat Miro den Drachen entdeckt.

Kein Auto der Welt würde sich auf diesem ehemaligen Parkplatz bewegen. Aber ein Drache. Er platscht mit seinen quallenförmigen Pranken von Asphaltloch zu Asphaltloch, von Pfütze zu Pfütze. Je tiefer die Pfütze, desto weiter und lauter spritzt das Wasser. Er scheint es zu genießen. Das Wasser perlt an seiner Haut ab, der lange Rücken windet sich unter den Tropfen wie Papa unter der Dusche.

„Wie der wohl heißt?“, fragt Lotte.

„Wir könnten ihn ‚Theodor‘ nennen“, schlägt Fabian vor. Fabian kennt Namen, weil seine Stiefmutter gerade ein Baby bekommen hat.

„Du spinnst. Theodor ist kein Drachenname“, antwortet Lazlo.

„Und was ist ein Drachenname?“, fragt Fabian zurück.

„Hugo.“

Lotte brüllt vor Lachen. Miro bleibt stumm. Er sieht dem Drachen in die Augen und entdeckt ein Leuchten, dass er so noch nie gesehen hat. Die Augen strahlen glücklich und erzählen gleichzeitig von einem sehr traurigen Erlebnis. Ein Königreich gefangen in einem Drachenleben auf einem Parkplatz mit Asphaltlöchern.

„Nechard können wir ihn nennen“, sagt Sven.

„Das ist voll einfallslos. Einfach Drachen von hinten!“, schnaubt Lotte.

So streiten sie ein Weilchen.

„Also bleibt es bei Nechard“ beschließt Miro am Abend, eh jeder nach Hause geht.

Nechard hatte sich in der Zwischenzeit ein besonders großes Asphaltloch gesucht und hineingelegt. Jetzt schnarcht er.

„Wir können es wagen, an ihm vorbei zu gehen!“ schlägt Lazlo vor.

„Keiner verrät etwas zu Hause“, befiehlt Sven. Er spielt gerne den Anführer.

„Warum?“, fragt Miro.

„Weil sie sonst kommen und Nechard für den Zoo holen.“

„Wir könnten hier doch einen eigenen Zoo aufmachen!“

Das ist ein guter Entschluss! Dann schleichen sie hintereinander, Miro, Sven, Lazlo, Fabian und zum Schluss Lotte, aus dem Lagerhaus heraus.

„Hoffentlich ist er morgen noch da!“, flüstert Lotte zum Abschied.

Der Drache grunzt, als sie auf seiner Höhe sind. Er hebt den Kopf. Lazlo zittert am meisten, er ist der kleinste und ‑ er hatte Angst vor Drachen.

Miro schleicht weiter. „Nicht beachten, ganz ruhig bleiben, dann bleibt er auch ruhig!“

Geschafft. Sie erreichen das Tor, das sie aus dem Parkplatz heraus auf die Straße führt.

 

Miro, Sven, Lazlo, Fabian und Lotte haben Glück. Auch am nächsten Tag liegt Nechard an seinem Platz in der Pfütze und schläft. Vorsichtig schleichen sie an ihm vorbei. Lazlo geht heute sogar ein paar Schritte auf ihn zu und spitzt in die Nasenlöcher.

„Da ist kein Feuer drin“, verkündet er, als er sich wieder in sicherem Abstand und bei den Anderen steht.

Sie warten. Lotte nähert sich als Nächste. Sie bückt sich über eine Pfote, streckt ihre Hand aus ‑ gerade als sie die Haut fast berührt, schnauft Nechard. Lotte rennt zurück. „Die Krallen sind scharf“, sagt sie.

Lazlo tippt Miro auf die Schulter.

„Jetzt du.“

„Ich bin doch nicht wahnsinnig. Ihr habt ihn aufgeweckt.“

„Dann musst du eben vorsichtig sein.“

„Was wollt ihr wissen?“ Miro hat fürchterliche Angst. Aber er kann jetzt unmöglich kneifen.

„Welche Farbe haben seine Augen?“ meint Sven.

„Du spinnst!“, sagt Lotte. „Nechard schläft doch, dazu müsste Miro ihm die Augenlider hochziehen!“

„Versuchs doch selber“, sagt Lazlo zu Sven.

Miro denkt fieberhaft nach. Ihn interessiert am meisten, ob man auf dem Drachen reiten kann. Und natürlich: ob man auf ihm fliegen kann.

Er zieht seine Schuhe aus.

„Was hast du vor?“ flüstert Lotte.

„Hej, jetzt bin ich gespannt“, sagt Sven.

„Pass auf, wenn er Feuer spuckt, dann läufst du nicht zu uns zurück, sondern nach vorn ins Lagerhaus. Wir werden ihn von dir ablenken und großen Krach machen. Wartet mal.“ Lazlo rennt davon und holt Eimer und abgebrochene Stuhlbeine.

Nun schläft Nechard wieder ganz friedlich. Manchmal zuckt er, als ob er träumt.

Miro schleicht los. Er vermeidet die Pfützen, um keine nassen Füße zu bekommen. Drachen können ja die Temperatur nicht wechseln, hat er mal gehört. Egal wie warm oder kalt es draußen ist, sie sind immer gleich warm. Also müssen sie ins Wasser, um sich abzukühlen oder Feuer spucken, um sich aufzuwärmen oder so ähnlich. Auf jeden Fall will Miro Nechard nicht mit seinen kalten Füßen erschrecken. So wie seine Mutter immer zusammenzuckt, wenn er nachts in ihr Bett kriecht. Von dem Weg vom Kinderzimmer ins Schlafzimmer bekommt er immer kalte Füße. Seine Mutter lässt ihn aber dennoch unter ihre Decke und er darf seine Füße an ihren wärmen. Vielleicht war der Drache auch so nett.

Miro geht an dem Tier entlang. Er braucht elf Schritte, um die ganze Länge abzugehen und noch viel mehr, um um den Drachen herum zu gehen.

Lotte winkt ihm zu, er solle zurückkommen. Sven starrt, Fabian schiebt die Faust in den Mund. Lazlo steht mit einem Holzknüppel und einem Eimer bereit.

Nechard öffnet die Augen und die Pupillen bewegen sich ganz langsam zu Miro. Dabei legt er sich noch flacher auf den Boden. Sein ganzer Bauch versinkt im Boden. Ein Bein winkelt der Drache an. Miro findet, das schaue aus wie eine Treppe und fühle sich wie eine Einladung an. Also klettert er auf den Rücken, sucht sich einen Platz zwischen zwei Höckern. Drachen haben nämlich eine Reihe von kleinen Höckern den ganzen Rücken entlang. Miro findet eine bequeme Kuhle, eine die genauso so groß ist wie er.

Sven, Lazlo, Fabian und Lotte stehen steif und regungslos und schauen ihm zu. Miro sitzt auch steif. Er wagt es nicht, sich zu bewegen. Er wundert sich. Er ist so hoch und stolz und die Sonne kommt zwischen Wolken hervor und strahlt auf sein Gesicht. Wie ein König. Wie ein König der Lüfte.

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